Ein satirischer Reisebericht aus dem Epizentrum menschlicher Eigenheiten
Inhaltsverzeichnis
Einsteigen in die deutsche Seele auf Schienen
Ich melde mich live aus dem RE 6 – der Regionalexpress zwischen Metropole und Meeresrauschen, zwischen Alltagsflucht und Syltsehnsucht. Für Außenstehende ist es nur ein Zug. Für uns Reisende aber ist er mehr: eine fahrende Sozialstudie, ein menschlicher Schmelztiegel, das rollende Epizentrum der Einzelschicksale – verdichtet, ungefiltert, erbarmungslos.
Sitzplätze zwischen Hoffnung und Handgepäck
Schon beim Einsteigen wird klar: Wer im RE 6 einen Sitzplatz findet, darf sich nicht auf Ruhe oder Komfort einstellen, sondern auf Interaktion. Auf Kollisionskurs mit der deutschen Mitreisendenkultur. Der Anspruch auf persönlichen Raum wird hier sehr individuell interpretiert. So liegt mein direkter Gegenüber samt XXL-Rucksack quer über zwei Plätze, ein dritter ist mit Tüten belegt – offenbar ein Platz für das emotionale Gepäck, das man nicht allein tragen kann.
Kosmetik, Konfrontation und Klangattacken
Schräg gegenüber führt eine Frau eine Art kosmetisches Ritual durch, das irgendwo zwischen Fußpflege und Nagelstudio einzuordnen ist. Ohne Scheu wird gefeilt, gepresst, gecremt. Alles offen, alles ehrlich. Und wer Pech hat, sitzt im Wind der Hornhautabtragung.
Gleichzeitig läuft auf einem Handy mit voller Lautstärke ein YouTube-Video über die besten Proteinriegel Deutschlands. Der Ton kratzt, der Bildschirm flimmert, der Besitzer ist begeistert – alle anderen weniger. Zwei Reihen weiter telefoniert jemand in einer Lautstärke, als wolle er die Person am anderen Ende direkt durch den Äther anschreien. Das Thema: Der Cousin, der sich in Flensburg ein Hoverboard gekauft hat. „Aber das ist nicht TÜV-zertifiziert, verstehst du, Klaus?!“
Duftkompositionen aus der Hölle
Dann schreitet ein Mann durch den Gang, so würdevoll wie ein Kapitän auf dem Deck eines sinkenden Dampfers. Sein Duft? Eine olfaktorische Herausforderung. Die Kombination aus einem vermutlich am Vortag aufgetragenen Deodorant und dem beherzten Verzicht auf Körperhygiene ist… einzigartig. Ich sehe Mitreisende zu ihren FFP2-Masken greifen. Andere schließen resigniert die Augen – vielleicht ein stilles Gebet.
Leberwurst als olfaktorischer Schlusspunkt
Als Höhepunkt – im wahrsten Sinne des Wortes – packt der ältere Herr neben mir sein Leberwurstbrot aus. Langsam, fast feierlich. Die Alufolie raschelt, als wolle sie warnen: Was jetzt kommt, ist nichts für schwache Nasen. Und dann entfaltet sich der volle Leberwurstgeruch, dieser urdeutsche Geruchsfanfarenstoß, der sich wie ein warmes Tuch über das gesamte Abteil legt. Eine Mischung aus Wurst, Zwiebel, Kindheitserinnerung und innerem Aufschrei. Kurzzeitig habe ich das Gefühl, die Luft ist käuflich geworden – und ich kann sie mir nicht leisten.
Der RE 6 als verdichtete Wirklichkeit
Noch 40 Minuten bis Westerland.
Der Zug schaukelt, die Einzelschicksale schnauben, rascheln, tippen, essen, telefonieren, leben. Der RE 6 ist kein Verkehrsmittel – er ist ein Erlebnisraum. Hier wird das deutsche Wesen in all seiner Zerrissenheit, Nähe und Rücksichtslosigkeit greifbar. Eine fahrende Wundertüte menschlicher Ausdrucksformen, in der jeder Platz ein Mikrokosmos ist.
Licht am Ende des Tunnels
Doch ein Licht am Ende des Tunnels – wortwörtlich. Westerland rückt näher. Endstation. Die Türen werden sich öffnen, der Geruch wird verfliegen, der Lärm verklingen. Die letzten Meter rollen wir in den Hafen der Erholung, der Seeluft, der stilvollen Zurückhaltung. Sylt, mein Sylt.
Ein Erlebnis bleibt haften
Ab hier beginnt die Erholung – aber ich werde den RE 6 nie vergessen.
Euer Satire Kurt
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