In unserem Fortsetzungskrimi geht es heute mit Teil 21 von Dünengrab weiter. Hier startet der Fortsetzungskrimi.
Draußen über dem Wattenmeer brach die Sonne scharfe Lanzen durch die aufbrechende Wolkendecke.
Die zahlreichen Priele, in denen sich das Meerwasser gesammelt hatte, glitzerten im Sonnenlicht.
Wie winzige Schaufelbagger wühlten sich kleine Krebse durch den Schlick, um sich vor den gierigen Möwen zu verstecken, die wie ein Jagdgeschwader auf Beutezug waren.
Vom Dünenweg aus beobachteten zahlreiche Spaziergänger dieses Naturschauspiel, aber noch spannender für sie war das Großaufgebot der Polizei auf der rückwärtigen Seite.
Hunde rannten durch das Heidekraut und an dem kleinen Strandabschnitt ließ ein Vater mit seinem Sohn einen Drachen steigen, der sich wie ein bunter Wurm in der Luft wand.
Das kalte Augenpaar hinter dem großen Terrassenfenster bekam von alldem nichts mit. Leblos starrte es auf einen Punkt in der Ferne.
Ein halbes Dutzend Polizisten sperrte den Tatort und den Garten ab.
Bente hatte kurzentschlossen die Verfolgung von Dreesen abgebrochen, als sie Heikes panisches Schluchzen gehört hatte. Sie waren kurz vor Hörnum, als Hansen das Blaulicht aktiviert und Bente das Gaspedal durchgedrückt hatte. Mit Vollgas fuhr sie auf der schnurgeraden Straße, vorbei an der Sansibar und dem Samoa Seepferdchen. In Rantum bremste sie ab und drückte erst auf Höhe des Schullandheims wieder das Gaspedal durch. 17 Minuten nach Heikes Anruf erreichten sie den Tatort in Kampen.
»Wo ist sie?«, rief Bente, als sie aus dem Wagen stürmte.
Ein Kollege wies ihr mit der Hand die Richtung.
Heike stand breitbeinig, mit beiden Händen an die Hauswand gestützt, und übergab sich wieder und wieder.
Bente legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie hatte dies schon bei vielen Kollegen gesehen, bis sie sich irgendwann an den Anblick des Todes in all seinen Grautönen gewöhnt hatten.
Schluchzend drehte Heike sich um.
»Ich will so etwas nicht sehen!«
Tränen rannen über ihre Wangen.
»Ist schon gut!«, versuchte Bente, sie zu trösten.
»Nein, ist es nicht! Sie hat mich angestarrt und ich habe meine eigene Angst in ihren Augen gesehen!«
Die Erinnerung an ihre erste Leiche, die sie gesehen hatte, kam hoch und damit verbunden der Ärger über die dämlichen Sprüche ihrer Kollegen. Du wirst dich dran gewöhnen.
Bei der ersten Leiche isses am schlimmsten.
Is eben nix für ne zarte Frauenseele.
Insgeheim wünschte Bente sich, dass Heike sich nicht daran gewöhnen musste, allerdings wollte sie sie bereits jetzt, nach so kurzer Zeit der Zusammenarbeit, nicht missen.
Heike strahlte einen Frohsinn aus, der auf sie abfärbte.
Du bist egoistisch!
Sie sollte ihr ans Herz legen, die Abteilung zu wechseln, um nicht so ein emotionsloser Knochen wie sie selbst zu werden!
Bente geleitete sie zum Golf und drückte ihr Ulrikes Leine in die Hand.
Die Labradorhündin tänzelte in freudiger Erwartung um sie herum.
»Geh ein bisschen frische Luft schnappen und komm erst zurück, wenn du wieder einigermaßen auf dem Damm bist!«
Heike wollte protestieren, aber Bente legte sich den Zeigefinger auf die Lippen.
»Pssst, keine Widerrede, das ist ein Befehl!«
Schlurfend entfernte Heike sich, dann drehte sie sich noch einmal um.
»Danke, Brodersen!«
Bente winkte und machte sich auf den Weg zum Tatort. Die SpuSi war mittlerweile eingetroffen und wieder einmal war sie umgeben von weißen Papieroveralls.
Mit Betreten der Wohnung war sie wieder die sachlich orientierte Kommissarin und nahm jedes Detail auf. Die tote Lisa Sellering hing an einem Seil von der Decke.
»Hast du schon was für mich?«, wandte sie sich an Flackner, der die Leiche inspizierte.
Er war heute bereits zum zweiten Mal hier in Kampen und machte keinen Hehl daraus, dass er seinen Job an solchen Tagen hasste.
»Selbstmord, würde ich tippen, aber für mich sind das ein paar Todesfälle zu viel in so kurzer Zeit und so kurzer Entfernung.«
Bente nickte.
»Der Strick ist höchstwahrscheinlich vom gleichen Fabrikat wie der, mit dem Svea Larsen stranguliert wurde.«
Flackner wies auf den umgekippten Stuhl.
»Auf den hat sie sich gestellt und ihn dann mit den Füßen umgestoßen.«
»Und warum?«
»Soll ich jetzt etwa auch noch deinen Job machen? Das musst du herausfinden!«
Langsam drehte sie sich um die eigene Achse, ging in dem großzügigen Wohnzimmer herum und ließ den Tatort auf sich wirken.
»Hast du dich erhängt, Lisa Sellering? Oder wurdest du auch ermordet?«
Die ganze Wohnung wirkte aufgeräumt und die Einrichtung war ganz sicher teuer gewesen. Auf dem Tisch befanden sich eine Fernsehzeitung, eine Holzschale mit Lakritz und eine Vase mit Strandgras.
Bente betrat die angrenzende Küche. Auch hier war alles penibel ordentlich. Am Kühlschrank hing ein Zettel mit einer Einkaufsliste. Ein Bund Petersilie stand in einem Wasserglas auf der Arbeitsplatte.
»Brodersen, du solltest dir das mal ansehen!«
Hansen winkte ihr aus dem Schlafzimmer zu.
Bente ging zu ihm und registrierte die akkurat gefaltete Bettdecke, bevor ihr Blick auf das eingeschlagene Fenster fiel.
»Das waren unsere Kollegen! Die Tür ist von innen verschlossen gewesen. Auch keines der Fenster stand offen. Deswegen die Holzhammermethode!«, erklärte Hansen.
Er trug Latexhandschuhe und hielt einen Ordner in den Händen, den er jetzt auf das Bett legte und aufschlug.
Bente starrte entgeistert auf die Bilder.
»Das ist krank!«
Fotos von Benno Larsen und Juliette, Schnappschüsse aus allen möglichen Winkeln, teilweise stark herangezoomt. Auf einigen lachten sie, auf anderen sahen sie sich tief in die Augen.
Alle Fotos waren mit einem Kugelschreiber bekritzelt oder mit einem scharfen Gegenstand zerkratzt worden. Auf den Gesichtern befand sich entweder ein Kreuz oder sie waren durchgestrichen.
Bente blätterte angeekelt durch die Fotofolien.
Was hast du getan, Lisa Sellering?
Plötzlich stockte sie. Ein Foto zeigte Svea Larsen. Ihr Gesicht war weder zerkratzt noch durchgestrichen. Mit einem roten Filzstift war ein Strick um ihren Hals gemalt worden.
Flackner erschien in der Tür.
»Ich fahr schon mal ins Labor, erste Ergebnisse morgen früh. Im Bad haben wir das hier gefunden!«
Er hielt einen Plastikbeutel mit einer braunen Apothekerflasche in der Hand.
»Chloroform!«
Die Puzzleteile fügten sich zusammen und doch hatte Bente nicht das ganze Bild vor Augen.
»Flackner, das bedeutet Überstunden!«
»Ach, davon hab ich noch keine, das passt gut!« Er schüttelte den Kopf und rollte mit den Augen.
»Kannst du schon was zum Todeszeitpunkt sagen?«
»Muss ungefähr 12 Stunden her sein, mehr nach der Obduktion!«
Bente nickte ihm zu.
»Hat sie sich kurz nach den Morden an den Larsens erhängt?«
»Würde passen! Amokläufer richten sich ja auch oft selbst.«
Hansens sachlicher Ton tat ihr gut. Sie brauchte Abstand.
»Eifersucht und Beziehungsdramen sind das Mordmotiv Nummer eins.«, murmelte sie vor sich hin.
»Der Hass in einem Menschen muss gewaltig sein, wenn er immer wieder das Gesicht auf einem Foto zerkratzt. Das kann krankhafte Eifersucht sein! Aber warum Svea Larsen?«
Er stand vor den Fotos und führte Selbstgespräche.
»Was?«
»Ich frage mich, weshalb sie ihre Freundin Svea umgebracht hat, wenn doch ganz offensichtlich ihr Hass auf Benno Larsen und Juliette gerichtet war.«
Bente starrte ebenfalls auf die Fotos.
»Und warum nicht Juliette?«
Hansen zuckte mit den Schultern.
»Ärgerlich, dass wir Dreesens Verfolgung abbrechen mussten.«
Grummelnd stimmte Bente ihm zu.
»Sind die Nachbarn befragt worden?«
»Ja, keiner hat etwas Auffälliges gehört oder gesehen. Seit Bekanntwerden der beiden Todesfälle nebenan laufen hier massenweise Touris rum. Das erschwert die Situation natürlich.«
»Auf alle Fälle wissen wir, dass Juliette Durand gestern Nacht hier war!«
Heike stand in der Tür.
»Gehts wieder?«
»Danke, ja. Der Anblick hat mich wirklich umgeworfen.«
Sie versuchte, zu grinsen.
»Ulrike habe ich draußen angeleint.«
»Okay, sie muss warten, bis die SpuSi fertig ist, sonst zerstört sie noch Spuren. Das kennt sie schon.«
»Wer auch immer dieses Au-pair-Mädchen ist, sie wird uns Rede und Antwort stehen müssen!«
Die Leiche von Lisa Sellering war bereits abtransportiert worden und Heike stellte sich an den Platz, wo der Strick von der Decke gehangen hatte.
»Unfassbar, dass sie sich das angetan hat. Wie muss es in ihr ausgesehen haben, dass Selbstmord ihr einziger Ausweg war?«
»Beziehungen bringen gleichermaßen Freud und Leid mit sich. Offensichtlich war sie psychisch krank und extrem eifersüchtig.«
Bente zeigte Heike den Ordner. Entgeistert starrte sie auf die Fotos, dann ließ sie sich auf das Sofa fallen und schloss den Ordner, als würde es sich um die Büchse der Pandora handeln.
»Wie hat sie das alles gemacht, wieviel Planung muss dafür notwendig gewesen sein?«
Ein lautes Magenknurren kam aus Heike Bauchgegend.
»Hunger?«
»Ich kann jetzt nichts essen!«
»Wenn ich sehe, welche Auswirkungen Beziehungstaten haben können, dann bleibe ich lieber allein!«
Heikes Augen füllten sich mit Tränen.
Bente warf Hansen die Autoschlüssel zu.
»Ich geh mit Ulrike zu Fuß, ihr könnt los, wir sind hier fertig!«
»Ich möchte noch einen kurzen Moment bleiben! Ist das okay?«, fragte Heike.
»Bist du sicher?«
»Ja, ich komme gleich nach!«
»Ich kann noch etwas bei dir bleiben…!«, schlug Bente vor, aber Hansen nahm sie am Arm und schüttelte wortlos den Kopf.
»Lass uns gehen, Brodersen!«
In Kooperation mit der Krimi-Autorin Krinke Rehberg präsentieren wir Ihnen den fesselnden Syltkrimi Dünengrab in mehreren Teilen. Jeden Samstag erscheint morgens ab 8.00 Uhr ein neuer Teil, des SyltKrimis. Lehnen Sie sich zurück, lassen Sie sich mitreißen und verpassen Sie Woche für Woche keine Folge des SyltKrimis. Wir lesen uns am kommenden Samstag mit Folge 22 wieder. Titelbild: Unis Riba/Shutterstock.com.