Ein archäologischer Spaziergang in die Tiefen der Sylter Frühgeschichte
Wenn man heute über die Insel Sylt streift, die Gedanken vom Wind durchlüften lässt und den Blick über die endlosen Wiesen schweifen lässt, trifft man bei Tinnum auf ein kaum beachtetes Relikt aus einer Zeit, die man auf der Insel kaum vermutet: eine „Burg“. Doch was wie ein Versprechen auf Türme, Zinnen und Ritterkultur klingt, ist in Wahrheit ein stiller, grasbewachsener Wall. Und gerade darin liegt ihre Bedeutung.
Was ist eine Burg?
Im geläufigen Sprachgebrauch ist eine Burg ein steinerner Herrschaftssitz, eine befestigte Festung des Mittelalters – Symbole der Macht, gebaut aus Granit, mit Türmen, Pechnasen und Zugbrücken. Doch diese Vorstellung greift für die Tinnum-Burg zu kurz – oder besser gesagt: zu spät.
Die Tinnum-Burg ist eine sogenannte Ringwallanlage. Sie besteht nicht aus Stein, sondern wurde aus Erde, Torf und Grassoden aufgeschüttet. Mit einem Durchmesser von etwa 120 Metern, einer Höhe von bis zu 8 Metern und einem umlaufenden Graben ist sie eines der ältesten archäologischen Zeugnisse Sylts – entstanden etwa zur Zeit Christi Geburt, also vor rund 2000 Jahren.

Historische Nutzung: Kultort, Zuflucht, Verwaltungszentrum?
Laut archäologischer Tafel vor Ort wurde die Burg in einer Rinne der Westerländer Geestverbindung errichtet, also einem natürlichen Geländeeinschnitt in der Sylter Südermarsch. Sie lag nahe einer heute verlandeten Seefläche, möglicherweise sogar an einem schiffbaren Gewässer. Das lässt Raum für Spekulationen: War die Tinnum-Burg ein Handelsstützpunkt? Ein kultischer Versammlungsort?
Klar ist: Grabungen von 1870, 1948 und 1976 haben Belege geliefert, dass der Ringwall sowohl in der römischen Kaiserzeit als auch in der Wikingerzeit (8.–10. Jahrhundert) genutzt wurde. Man fand unter anderem Reste von Innenbebauungen, sogenannte Sodenhäuser, sowie keramische Funde und Handelsobjekte wie norwegische Wetzsteine.

Einzigartige Struktur auf den nordfriesischen Inseln
Die Tafel betont, dass die Tinnum-Burg in ihrer Struktur und Bedeutung einzigartig für die nordfriesischen Inseln ist. Sie weist in ihrer Anlage – mit einem Wall, einem Innenhof und Spuren von Bebauung – auf komplexe soziale und politische Strukturen hin. Eine vergleichbare Anlage gibt es nur noch im südwestlichen Dänemark bei Lemböckesburg, was auf kulturelle und wirtschaftliche Verflechtungen mit dem skandinavischen Raum hindeutet.
Wandel durch die Zeit
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Burg noch als zusammenhängendes Gewässer in Karten dargestellt – vermutlich Teil einer sumpfigen Seelandschaft. Doch die Marschbegradigung im Jahr 1938 und weitere landschaftsverändernde Maßnahmen ließen die Burg zunehmend trockenfallen. Heute liegt sie leicht erhöht inmitten von Wiesen – ein stummer Hügel im Gras.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Wer sich der Tinnum-Burg heute nähert, tut dies über einen hölzernen Bohlenweg. Kein Eintritt, kein Zaun – nur das Gras und der Wind. Und eine blaue Infotafel, deren Inhalt mehr sagt als jeder Werbeflyer: Hier stand nicht einfach ein Denkmal, hier organisierte sich frühe Gesellschaft, hier traf sich eine Gemeinschaft, hier wurden Entscheidungen getroffen und Schutz gesucht.

Fazit
Die Tinnum-Burg ist keine Burg im üblichen Sinne – sie ist viel älter, viel stiller und viel offener für Interpretation. Als einzig erhaltene frühgeschichtliche Ringwallanlage auf Sylt zeigt sie uns, wie Geschichte unter der Oberfläche weiterlebt. Wer dort verweilt, erlebt Geschichte nicht als Ruine, sondern als Landschaft.
Quellen:
- Vor-Ort-Schild des Archäologischen Landesamts Schleswig-Holstein (Foto, 2025)
- Gemeinde Sylt-Ost, Denkmaltafel „Tinnum-Burg“, Aufstellung: 1999
- Wikipedia – Tinnumburg
https://de.wikipedia.org/wiki/Tinnumburg - Insel Sylt Tourismus-Service – „Die drei Burgen der Insel“
https://www.insel-sylt.de/geschichte-auf-sylt-die-drei-burgen-der-insel - Michels Hüs: Sehenswürdigkeiten Sylt
https://www.michels-hues.de/sylt/sehen-und-wissen/die-tinnumburg - GoonTravel: Aussichtspunkte auf Sylt
https://www.goontravel.de/aussichtspunkte-auf-sylt
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